Die Trafik am „Wiener Wörthersee“
Seit einigen Jahren entsteht mitten in Donaufeld, dem alten Kern des 21. Wiener Gemeindebezirks, ein fast völlig neues Stadtbild. „Viele neue Bauten wurden hier errichtet, die alten abgerissen. Das hat das Charakterbild an der Alten Donau völlig verändert. Wir sind jetzt auch von den Wohnungspreisen her fast über Nacht zum Wörthersee von Wien geworden“, erklärt Herr Franz, einer, der es wissen muss. Denn Rudolf Franz lebt seit „ewiger Zeit“, wie er sagt, im Bezirk und ist Trafikant. „Ich bin sogar ein Donaufelder Fossil, war also schon immer da“, lacht die rustikale Urgewalt, die im Jahr 2000 von einer großen Tageszeitung zum beliebtesten Trafikanten Wiens gekürt worden war.
Das Lachen ist Herrn Franz aber spätestens vor wenigen Wochen vergangen, als am 2. September sein Tabak-Pavillon von Baufahrzeugen geschliffen wurde. „Das hat mich schon geschmerzt, denn unsere Trafik war seit fast 70 Jahren im Familienbesitz, und es sind viele Erinnerungen damit verbunden. Ich bin praktisch darin aufgewachsen, auch die Hausaufgaben habe ich immer dort gemacht.“ Dass Rudolf Franz seit Anfang September in einem angrenzenden neu erbauten Geschäftslokal untergebracht ist, nimmt er hin.
Offene Wunde
Wenn er aber von seinem Pavillon spricht, wird der Trafikant emotional und kurz angebunden. Die stadtentwicklungsgeschichtliche Wunde ist noch nicht verheilt. Er wechselt schnell das Thema und verteilt seinen Schmerz auf die auch in den vergangenen zehn Jahren nicht leichter gewordene Situation der Trafikanten. „Es ist viel mehr Arbeit geworden für viel weniger Geld. Die Umsätze klingen zwar enorm hoch, weil immer mehr Aufgaben und Verkaufsartikel dazukommen, doch Abgaben und Gehälter für Angestellte, die man dann braucht, fressen fast alles wieder auf. Ich hab mir das vor kurzem durchgerechnet: Der Umsatz hat sich zwar gegenüber früher verfünffacht, doch der Verdienst ist weniger geworden als noch 1980! Was ist die Folge? Bei den Banken spricht sich die oft triste Situation der Trafikanten herum, und man hat Probleme, Firmenkredite zu bekommen.“
Herr Franz ist jetzt noch stocksauer: „Wie soll ich ein neues Lokal mieten können? Ich bin fünfzig und habe noch einige Jahre vor mir. Trafikant bin ich aus Leidenschaft. Ich bekam zwar dann doch den Kredit, aber mit der vorherigen Aufforderung, ob ich denn dafür nicht für den anderen Service die Bank wechseln möchte. Ich sag’ Ihnen, Zeiten sind das geworden!“, sinniert Trafikant Franz.
Selfmademan
Weil sein neues Geschäftslokal mit 38 m2 wesentlich größer ist als vormals der Pavillon (12 m2), hat sich Rudolf Franz die Post mit an Bord geholt. Er selbst bezeichnet sich als verhandlungsbegabt und setzt hier auf Innovation im Grätzl. „Trotzdem: Dick hab ich’s nicht. Was Sie da im Geschäft sehen, hab ich alles selbst getischlert. Stellen Sie sich vor, ich müsste das auch noch bezahlen, dann kann ich gleich zusperren.“ Als Lokalmatador hat Herr Franz auch Vorteile: „Ich war gerade so am Werkeln im G’schäft, da is’ der Schani hereingekommen und hat mich fluchen gehört, weil ich keinen passenden Schraubenzieher gehabt habe. Daraufhin ist er zum Auto, hat ihn geholt und mir bei allem Weiteren geholfen. Und jetzt samma fast fertig.“ Pensionist Johann, der gerade um die Zeitung hereingekommen ist, freut sich sichtlich über seinen nachhaltigen Einsatz. Immerhin ist es ja auch „seine Trafik“ in direkter Nachbarschaft.
Herausforderung
Der Trafikbetrieb geht währenddessen ungestört weiter. Arbeiter der Post kommen und wollen die Elektrobeschilderung an der Außenseite montieren: „Wo sollen wir denn das anbringen?“, kommt die Frage. Herr Franz gelassen, als könnte ihn nichts mehr in der Welt erschüttern: „Gehts Burschen, des weiß i doch net. Es war jemand da, der hat alles vermessen, der hat’s für euch“, worauf die Elektrotruppe wieder abzieht. Inzwischen hat sich allerdings eine Warteschlange von alten und neuen Kunden gebildet. Manches geht wortlos über die Verkaufsbudel, anderes ist wieder ganz speziell „Ich tät noch das Sportheft über den Alaba brauchen. Gibt es das noch?“, fragt eine ältere Dame, die wie eine engagierte Lehrerin aussieht. „Das gibt es jetzt nimma. Ich probiere es aber nachzubestellen“, erwidert Herr Franz. Unterdessen gehen gleich mehrere Packungen rote Chesterfield über den Verkaufsladen.
Lotto hingegen will ein jüngerer Mann nicht mehr spielen: „Stellen Sie sich vor: Ich habe beim Lotto-Jackpot bis zum Schluss alle Ziffern richtig gehabt. Nur die letzte nicht. Es war wie im Krimi. Das hat mich wahnsinnig mitgenommen. Die nächsten Male war dann überhaupt nix. Nein, ich spiel’ nimmer, das halten meine Nerven einfach nicht aus.“
Zupacken
Gute Nerven braucht manchmal auch Mitarbeiterin Tanja, die für die Post zuständig ist und teilweise in der Trafik mithilft. „Wieso ist der Brief heute so teuer, das letzte Mal habe ich nicht so viel bezahlt“, ist eine Kundin überzeugt. Freundlich und ruhig erklärt Frau Tanja, dass der Brief ja nach Deutschland ginge, und das sei eben um einiges teurer als das Inland. Die Frau seufzt und zahlt. Inzwischen hat Lebensgefährtin Bernadette die Trafikkundenbetreuung übernommen, während Rudolf Franz einige schwere Pakete sortiert.
„Zupacken bin ich auch gewöhnt. Früher einmal war ich Koch, da schleppt man immer schwere Töpfe“, erinnert sich der Langzeit-Trafikant. „Als Junger wollte ich auch etwas erleben und hab als Koch auf einem Kreuzfahrtdampfer angeheuert. Später hat mein ehemaliger Chef ein Restaurant in Lech am Arlberg aufgemacht, da war ich dann auch.“
Mit 25 Jahren hat Rudolf Franz schließlich das Salettl seines Vaters übernommen: „Das war mir ein Bedürfnis. Denn mein Vater hat nach dem Krieg gemeinsam mit meinem Großvater die Trafik aufgebaut. Er kam als schwer Kriegsversehrter mit nur einem Bein aus Stalingrad zurück und war mit Leib und Seele Trafikant. Von ihm hab ich alles gelernt und kann mir heute nichts anderes vorstellen.“
Trotz vieler Widrigkeiten spielt Herr Franz manchmal sogar mit dem Gedanken, aufs Ganze zu gehen und eventuell noch das angrenzende Nachbarlokal anzumieten. „Herrichten würde ich es wieder selbst. Wissen S’, denn handwerklich kann ich fast alles, sogar das Schweißen. Was ich nicht kann, lerne ich in Handwerkerkursen. Das macht Spaß. Außerdem ist es gut, vieles zu können – vor allem in Zeiten wie diesen.“
Erstmalig veröffentlicht im Oktober 2014