Warten auf das Christkind
Es kling wie die Filmsequenz aus einem Horrorthriller. Rückblende: 4. November 1973. Das Auto bleibt am Pannenstreifen einer Autobahn stehen. Die Warnblinkanlage wird eingeschaltet. Ein Mann steigt aus. Er öffnet den Kofferraum, um das Pannendreieck herauszunehmen. Plötzliches Krachen. Der Mann liegt unter dem Auto, seine abgetrennten Beine neben ihm. Rettung kommt. Gefäße und Sehnen sind noch dran. Krankenhäuser werden gesucht. Erst das dritte hat einen OP-Saal frei. Notoperation. Beine wieder dran. Neun Monate Krankenhaus, jahrelange Reha. Und die Täter: zwei unkonzentrierte Bundesheersoldaten auf dem Rückweg in ihre Kaserne. Sie hielten das Fahrzeug auf dem Pannenstreifen trotz Warnblinkanlage für ein fahrendes Auto zur Autobahnausfahrt …
Karl Salzer erzählt die Geschichte heute, als wäre sie aus einem anderen Leben. Abgeklärt. Mit Distanz. Ohne Schuldzuweisung. Sie brachte ihm seine 60-prozentige Invalidität ein. Und mit dieser lebt er mittlerweile mehr als 40 Jahre: „Ich war damals 18 Jahre jung, hatte mein Leben also noch vor mir. Den Arzt, der mich damals operierte, traf ich Jahrzehnte später wieder. Er konnte sich noch an mich erinnern. Da ich damals in Linz operiert wurde, nannte man mich auf der Krankenstation immer nur der „Weaner“, also der, der aus Wien stammt. Irgendwie habe ich scheinbar einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen“, scherzt Herr Salzer heute.
Aufbruch
Damals kickte er als Nachwuchsspieler beim Sportclub FAVAC und arbeitete als Einzelhandelskaufmann bei der Firma Tlapa: „Ich war dann in einem Chemiebetrieb einer Reinigungsfirma beschäftigt. Doch das Stehen und Gehen war einfach zu beschwerlich geworden. Freunde ermutigten mich zur Übernahme einer Trafik. Ich war vorerst skeptisch. Ein Trafikant hatte immer den Ruf: alt, verstaubt, konservativ, tschicken.“
1983 schließlich suchte eine Trafikantin einen Nachfolger für ihre Trafik in der Kölblgasse 17, im 3. Wiener Gemeindebezirk. Karl Salzer erfuhr davon und kam mit der ganzen Familie. Tochter Maria war erst sechs Monate alt, und er trug sie in der Tragtasche: „Wir kamen in die Trafik, und meine Frau und ich wussten: die und keine andere. Wir hatten sofort ein tolles Einverständnis mit der Inhaberin und deren engster Mitarbeiterin, der Frau Maschek. Obwohl mehrere Anwärter waren, erhielten wir den Zuschlag.“
Mentorin
Frau Maschek stellte sich als Glück für die junge Trafikantenfamilie heraus: „Ich hatte ja keine Ahnung, was ein Trafikant machen soll. Bei meiner Tochter ist das schon anders. Die hat nach zehn Jahren Tätigkeit im Flughafen Schwechat die Trafikantenakademie absolviert. Mir hat Frau Maschek alles beigebracht und half bei der Suche nach geeignetem Personal. Zehn Jahre lang war sie dann noch bei uns. Unsere wunderbare Frau Bauer, die vorher auf einer Kinderstation im Krankenhaus gearbeitet hat, wurde auch von ihr empfohlen, und das war goldrichtig!“, schwärmt der zeitweise humorig-
resche Karl Salzer vom Teamgeist in seiner
Trafik. Dass allerdings hier viel Seele mitschwingt, beweisen nicht zuletzt die liebevoll drapierten Weihnachtsaccessoires in der Mitte der geräumigen Trafik, die in der Anfangszeit nur 8 m² groß war. Dreimal wurde sie umgebaut, wobei Trafikant Salzer eifrig mithalf: „Das war eine Arbeit! Aber es hat sich ausgezahlt. Jetzt haben wir ca. 30 m² Verkaufsfläche und noch einmal so viel aufgeteilt auf Lager und Büro.“
Vertrauen
Dort stehen zwei Schreibtische. Während der Arbeit sitzen Trafikant Salzer und Tochter Maria Rücken an Rücken. Seit einem Jahr bereiten sie die Übernahme vor: „Wir lassen uns aber Zeit. Es soll alles gut klappen, und irgendwann bleibt sie dann mit ihren Entscheidungen allein.“ Maria Salzer lacht, als hätte sie die Situation mit ihrem Vater schon öfter durchgespielt und die Zügel bereits fester in der Hand, als ihm lieb ist, denn aufhören möchte er erst in drei Jahren. Doch die beiden sind ein verschworenes Team. Und überhaupt lässt er sich viel von seinen Trafik-Frauen sagen, vor allem, seit seine Ehefrau 2012 verstorben ist. Sie saß während des verheerenden Unfalls im Auto und wich danach nicht von seiner Seite. Dieser Zusammenhalt prägte auch die Trafik: „Falls ein Kunde, was in 30 Jahren genau dreimal vorgekommen ist, einer meiner vier Damen ungut kommt, bin ich sofort draußen. Denn ich höre und sehe hier drin alles.“
Familienglück
Im gleichen Moment kommt Frau Eva, die Seele der Trafik Kölblgasse, ins Büro. Sie ist für alles, was nicht Verkauf und Trafikbürokratie anbelangt, zuständig. Doch heute fühlt sie sich nach einer Vorsorgeuntersuchung nicht wohl. Maria Salzer zeigt Verständnis und schickt Eva nach Hause. Kann sie doch derzeit einiges an körperlicher Mühsal nachempfinden: Sie ist hochschwanger und kommt extra für das Interview in die Trafik. Jede Stunde könnte die Geburt losgehen: „Ein Bub wird es werden, falls es sich nicht plötzlich ändert“, lacht Frau Salzer.
Auch der künftige Opa wird nervös. Es fällt ihm gleich sein eigener Vater ein, der jetzt über 90 Jahre und topfit ist: „Er geht noch immer in die Sauna. Im 10. Bezirk hat er ein kleines Häuschen, und vor zwei Jahren beobachtete der Nachbar, wie wir gemeinsam zum Saunieren gingen. Nach einer Stunde erinnerte er sich, dass wir noch nicht herausgekommen waren. Bei 80 °C waren wir eingeschlafen. Ich war fertig. Doch mein Vater machte sich daraufhin noch einen Aufguss. Aber so ist der drauf“, erinnert sich der Sohn und freut sich schon auf das Neujahrs-Familienessen beim Clan-Ältesten, der auch täglich kocht.
Familie und Freunde sind Karl Salzers Hobby. Ohne sie möchte er nicht sein. So hält er es auch mit seiner zusätzlichen Tätigkeit als Bezirksvertrauensmann für den 18. und den 19. Bezirk im Wiener Landesgremium der Tabaktrafikanten. Seine engsten Vertrauten trifft er jeden Freitag beim Heurigenstammtisch, obwohl er selbst Antialkoholiker ist. Alle Vorkommnisse der Woche werden dort besprochen – und das seit vielen Jahren. Doch beim nächsten Treffen wird wohl die spannendste Frage an ihn sein: Hat Maria schon ihr Christkindl geboren?
Erstmalig erschienen im Dezember 2016